Alte Schätze müssen an die frische Luft
Das Leben ist eine Reise. Täler und Berge, Wiesen und Auen, Klippen und Dünen, Wüstenlandschaft, Sümpfe, Stromschnellen und ruhige See wechseln einander ab. Manchmal sehen wir den Wald vor lauter Bäumen nicht. Ab und an beschleicht uns das dumpfe Gefühl, auf einem Vulkan zu sitzen oder in der Höhle des Löwen auszuharren. Bisweilen lässt man sich zu der Feststellung hinreißen: Jetzt bin ich definitiv in Absurdistan gelandet!? Und irgendwann nach langen Tagen und durchwachten Nächten dann wieder: Grenzenlose Weite und endloses Himmelblau. Das aufatmende Gefühl von Freiheit. Die Wahl zwischen ausgetretenen und unbekannten Pfaden. Das Rauschen der Wellen, der Gesang der Vögel und nachts die Sterne über dir.
Von wichtigen Momenten erzählen
Wenn wir auf dieser Reise durch abenteuerliche Lebenslandschaften und Gefühlsgemengelagen mit anderen Menschen zusammentreffen und nicht bei einer oberflächlichen Bekanntschaft stehen bleiben, dann erzählen wir einander in der Regel von wichtigen Erlebnissen, von besonderen Momenten auf unserer Lebensreise. Dann wird Leben zur erzählten Zeit. Selten erzählen wir dabei vom Alltag, sondern vielmehr von den Stationen, auf denen uns etwas Wichtiges widerfahren ist. Momente, die sich herausheben aus dem Einerlei des Alltags: in denen wir herausgefordert waren, die sich uns eingebrannt haben, die wir nicht mehr loswerden, aus denen wir leben, die immer bleiben. Sie haben oft mit anderen Menschen zu tun: Wir haben einen Weggefährten getroffen, der unserem Leben eine andere Richtung gegeben hat. Oder wir haben uns auf unserer Wanderschaft von jemandem verabschieden müssen, der von unserer Reise bisher einfach nicht wegzudenken war. Oder wir haben bewusst zueinander gesagt: Lass uns beide ab jetzt besser getrennte Wege gehen! Oder einander das Gegenteil versprochen: „Wo du hingehst, da will ich auch hingehen; wo du bleibst, da bleibe ich auch.“ (Rut 1,16)
Über diese besonderen Momente auf unserer Lebensreise haben Meike Barnahl und ich vor kurzem ein Buch geschrieben. Es erzählt in 19 Lebensgeschichten davon, wie christliche Rituale Rastplätze und Herbergen sein können, an denen wir Pause machen, uns ausruhen und stärken können.
So wie Rastplätze und Herbergen kommen Rituale nicht einfach aus dem Nichts. Da ist immer schon ein Baumstamm, auf den ich mich setzen kann, eine gemähte Wiese, auf der ich mein Zelt aufschlagen kann, oder eine Höhle, in die ich mich zurückziehen kann. Rituale transportieren Worte, Werte und Handlungen, die Menschen schon lange vor uns selbst wichtig waren. Zum Beispiel, wenn wir einen toten Menschen bestatten oder den unendlichen Wert eines neugeborenen Kindes feiern, für Speis und Trank danken oder für geleistete Arbeit.
Der Mensch braucht Rituale
Damit stabilisieren sie das Leben, weil sie seinen Widerfahrnissen Fassung und seinen Wegstrecken Würdigung geben. Der Philosoph Byung-Chul Han hat das ziemlich schön auf den Punkt gebracht, indem er schreibt, dass Rituale „das In-der-Welt-Sein in ein Zu-Hause-Sein [verwandeln]. Sie machen aus der Welt einen verlässlichen Ort. […] Sie machen die Zeit bewohnbar.“ (aus: „Vom Verschwinden der Rituale. Eine Topologie der Gegenwart“) Ohne das alles würde sich noch viel stärker als ohnehin schon die Frage stellen, warum wir das alles tun: laufen und kämpfen, sprinten und ausharren, kriechen und springen, arbeiten und ausruhen, sich verbinden und trennen.
Das Kirchenjahr, an dem sich viele unserer Feiertage mit ihren alten Ritualen orientieren, bietet uns Rastplätze zu ganz unterschiedlichen Themen an: Zum Beispiel die Zeit des Wartens im Advent, den Verzicht ab Aschermittwoch, den Dank für die Ernte im Herbst, die Zeit der Trauer im November oder den Ausblick auf unsere großen Hoffnungen am Ewigkeitssonntag. Und natürlich gehören auch Fasching und Karneval oder die Raunächte zu diesen Rastplätzen des Jahreskreises dazu. Ohne solche Rituale, die die Zeit strukturieren und uns Orientierung geben, ist die Zeit bloß „ein unbeständiger Fluss“ – ohne Inseln, ohne Ankerplätze. Nur rauschendes Getöse. Je mehr jedoch die Selbstverständlichkeit dieser Rituale schwindet, desto schwieriger wird es für den Einzelnen, sich von ihnen beherbergen zu lassen – und für eine Gesellschaft, ein gemeinsames Ganzes zu entwickeln.
In den letzten Jahrzehnten sind viele Äquivalente zu Taufe, zur kirchlichen Hochzeit und Bestattung entstanden. Zahlreiche Ritualdesigner:innen und Ritualbegleiter:innen haben den Markt dafür entdeckt. Bei der Namensweihe für kleine Kinder, der Jugendweihe oder der weltlichen Hochzeit und Bestattung bilden die kirchlichen Rituale immer noch so etwas wie eine Hintergrundfolie. Trotzdem zeigt diese Entwicklung, dass die Rituale der Kirche in der modernen Kultur mittlerweile zu einer Variante der Sinnsuche neben vielen anderen geworden sind. Eine Option, die man wählen kann, aber nicht mehr muss. Vielen erscheinen die Rastplätze und Herbergen der Kirche inzwischen ein wenig verstaubt. Oder sie trauen sich einfach nicht, sie zu betreten, um sich dort auszuruhen und stärken zu lassen.
Ohne Rituale, die die Zeit strukturieren und uns Orientierung geben, ist die Zeit bloß „ein unbeständiger Fluss“ – ohne Inseln, ohne Ankerplätze.
Kirche wieder sichtbar machen
Um christliche Rituale bekannter zu machen und auch Menschen, die sich von den traditionellen Formen der Kirche entfremdet haben, ein religiöses Zuhause zu bieten, haben wir in den letzten Jahren eine Ritualagentur gegründet, die zum 1. Januar 2022 an den Start gegangen ist. In Hamburg gibt es seitdem nicht mehr nur St. Pauli oder St. Georg, sondern auch st. moment. Wir sprechen das übrigens erst Deutsch und dann Englisch aus [sankt moʊmənt]. Ziel dieses kleinen kirchlichen Start-ups ist es, dass wir als Kirche unkompliziert erreichbar sind, sichtbarer werden in unserer geistlichen Kreativität an ganz verschiedenen Gottes- und Herzenssorten und wirklich vorbehaltlos auf Menschen zugehen, um sie in den heiligen Momenten ihres Lebens zu begleiten.
In unserem Buch findet ihr 19 Geschichten inklusive Ritualvorschlägen, in denen wir von den Erfahrungen erzählen, die wir als Pastorinnen bei st. moment und drumherum gemacht haben – von Nottaufe über Tierbestattung, Raunächte, Schiffstaufe, Richtfest, Bachelor of Being oder Feier der Lebenswende, dem Abschied von einem langgehegten Wunsch oder einem Fuck-Up-Ritual. Es ist unser Versuch, die alten Schätze an die frische Luft zu bringen.
Foto von Sinitta Leunen auf Unsplash