Lost faith
Seit einiger Zeit treiben mich diese Fragen um: Warum hat Kirche im Westen so wenig Kraft? Warum sind uns viele als Kirche schon noch irgendwie freundlich gesonnen, aber kaum einer macht wirklich ernst mit der Jesus-Nachfolge? Warum erreichen wir so gut wie keine wirklich Kirchenfernen, kommen keine neuen Menschen zum Glauben, entfernen sich viele Jugendliche nach der Jugendarbeit wieder von Glaube, Gott und Kirche?
Ich habe gelesen, Podcasts gehört und nachgedacht und habe für mich diese vorläufigen Antworten gefunden.
Postchristliche Kultur (Dekonstruktion, Konsum & innerweltliche Utopie)
Wir leben in einer sog. „postchristlichen“ Kultur. Sie zeichnet sich dadurch aus, dass sie gewissermaßen pubertär herausgewachsen ist aus dem Christentum und nun leidenschaftlich alles dekonstruiert, was irgendwie mit Tradition, Institution und Autorität zu tun hat. Postchristliche Kultur ist also gegen Tradition, gegen Institution und gegen Autorität. Zugleich malt sie uns eine Utopie vor Augen, eine schöne neue Welt. Sie bedient sich dabei aus den Werten des Christentums, will eine gerechte, friedliche und freie Welt schaffen – allerdings ohne Rückbezug auf eine gemeinsame Autorität (Gott) und aus eigener menschlicher Kraft. Sie will das Reich Gottes ohne Gott. Und tatsächlich liefert die postchristliche Kultur, vor allem in Verbindung mit dem Konsum, diese schöne neue Welt – zumindest teilweise. Es ist eine Welt, die (zumindest bis vor wenigen Jahren) vielerorts stabil und sicher war, die an Komfort und Wohlstand beständig zugenommen hat. Im öffentlichen Raum herrscht eine klare Ästhetik geschmackvoller Schönheit. Die Technologie verspricht, die Welt zu verbessern. Das ist die Welt, die wie erleben, wenn wir bequem mit dem Auto über gut ausgebaute und sichere Straßen fahren, vorbei an schön gestalteten Gebäuden, während unser Handy uns zu unserem Ziel führt und gleichzeitig unsere Lieblingsmusik spielt. Der Kaffee wird immer besser, das Essen immer raffinierter. Das ist die Welt der Dinge, der Gebäude und des Reisens und der Subtext lautet: alles wird immer besser, schöner, freier, liberaler und demokratischer. Und jeder Einzelne von uns kann seinen Wünschen in annähernd vollem Umfang nachzugehen. Das gute Leben ist kaufbar. Jedes Produkt, jede Dienstleistung verkündet im Stillen eine Art Evangelium, dass jeder von uns das gute Leben genießen kann. Hier und Jetzt. Wieder und wieder.
Individualismus, persönl. Freiheit und Selbstbestimmung (das Ich auf dem Thron)
Was wir in den letzten Jahrzehnten erleben, ist nicht die komplette Auslöschung Gottes aus dem westlichen Denken, sondern vielmehr die Inthronisierung des „Ich“ als höchste Autorität. Auf dem Thron sitzen folgende, tief verankerte Grundüberzeugungen
» Das höchste Gut und Wichtigste im Leben sind die individuelle Freiheit, die Selbstentfaltung das Glück (=> es gibt nichts Wichtigeres)
» Soziale Bindungen, die Individualität (die freie Entfaltung des Ich) einschränken, müssen dekonstruiert oder zerstört werden.
» Externe Autorität wird abgelehnt
» Die neue Autorität und der neue höchste Wert ist das Glück: gut und böse werden zunehmend ausschließlich danach definiert, ob mir etwas ein gutes Gefühl gibt oder ein schlechtes, ob es meiner Befriedigung dient oder nicht.
Alles um uns herum ruft uns zu: Folge deiner Leidenschaft, bestimme deinen eigenen Kurs, marschiere im Takt deiner eigenen Trommel, folge deinen Träumen und finde dich selbst! Gott – falls er überhaupt noch eine Rolle spielt – fällt in diesem Denken höchstens noch die Rolle des Dieners zu, der uns und unserer Glückseligkeit zuarbeitet oder uns von Zumutungen des Lebens befreit.
Digitaler Kapitalismus (Manipulation, überforderte Aufmerksamkeit, fehlender Fokus)
Der Aufstieg von Amazon, Social Media, Algorithmen und Künstlicher Intelligenz schafft einen Kapitalismus, der uns formt, wie noch nie etwas zuvor: alles hat einen Geldwert, alles steht zum Verkauf – auch und gerade unsere Aufmerksamkeit. Durch das Sammeln von unendlich vielen Daten (die auf einer Art Rohstoffmarkt verkauft werden) werden wir auf eine Weise gläsern und transparent, dass wir in einem ungeheuren Ausmaß manipulierbar werden. John Mark Comer hat das in seinem Podcast „This cultural moment“ (Folge 3) so ausgedrückt: „Die große Gefahr für uns ist, dass wir von Smartphones, Algorithmen, Marketingabteilungen und digitalem Kapitalismus in der Tiefe manipuliert werden. Wir werden manipuliert, damit wir uns auf bestimmte Weise verhalten, damit wir dieses Produkt kaufen, damit wir auf diese Weise wählen und diese Dinge über uns selbst denken.“ Dazu kommt: unsere Aufmerksamkeit ist komplett überfordert durch die Allgegenwart digitaler Medien und unendlich vieler Impulse, Reize, Möglichkeiten und Nachrichten. Das Internet ist ein Marktplatz von unzähligen Ideen und Ideologien. Wir bleiben von all dem so betäubt und verwirrt zurück, dass viele – bewusst oder unbewusst – sagen: Ich weiß nicht, was wahr ist, wem ich glauben soll und wem ich vertrauen kann. Also schau ich lieber Netflix und mache irgendwie mein Ding. Mark Sayers sagt in dem Podcast „This cultural moment“ (Folge 23): „Ich denke, was hier gestohlen wird, ist Fokus. Und Fokus ist Anbetung. Das, worauf ich mich konzentriere, dem gebe ich mich hin. Aufmerksamkeit ist der Anfang aller Anbetung.“
All diese Einflüsse, Kräfte, Faktoren legen sich wie Teflon auf Herz und Seele der Menschen und führen dazu, dass sie entweder erst gar nicht im Christentum nach etwas Wesentlichen suchen, oder aber innerlich sofort wieder wegdriften, wenn sie (z.B. bei Kasualien) in positiver Weise mit Glaube, Gott und Kirche in Berührung gekommen sind. All diese Einflüsse, Kräfte und Faktoren führen dazu, dass wir aktuell weitgehend auf verlorenem Posten stehen.
Mit Blick auf Mission haben wir als Volkskirche (und oft auch als Kirchengemeinden) bisher sehr häufig versucht, das Evangelium so zu formen, zu leben und zu präsentieren, dass der garstige Graben zu denen, die nicht (oder nur sehr wenig) glauben, möglichst klein ist: „Gott ist überall. Gott ist bei dir. Gott geht mit dir. Christlicher Glaube ist gar nicht so schlimm und gar nicht so anders oder anstrengend. Versuch es doch auch mal!“ Ich behaupte: diese Strategie ist gescheitert. Diese Botschaft führt zu einem weitgehend kraftlosen Glauben, der der kraftvollen gegenwärtigen postchristlichen, individuellen, konsum- und glücksorientierten Kultur nichts entgegenzusetzen hat.
Was können wir tun? Was bedeutet das für uns als Kirche? Wie kann es weiter gehen?
Die zentrale Frage für die nächsten Jahrzehnte lautet: wie verwurzeln wir uns tiefer in Christus?

Glauben & Leben als „kreative Minderheiten“ (Distanz zur Kultur, tiefe Wurzeln in Christus, Spannung aushalten)
Rabbi Jonathan Sacks, ehemaliger Oberrabbiner des Vereinigten Königreichs und des Commonwealth, schaut auf das, was in unserer Kultur seit einigen Jahrzehnten passiert und nennt unsere Kultur eine „Kultur in der Krise“. Er entdeckt keine schöne neue Welt, sondern beobachtet das inflationäre Zerbrechen von Familie und Ehe, das Ausfransen sozialer Bindungen, den Verlust des Vertrauens in öffentliche Institutionen, Zunahme an Angststörungen & Depressionen und vieles mehr. Er prophezeit: aus sich selbst wird unsere gegenwärtige Kultur nicht mehr aus dem Morast des Individualismus, des Hedonismus, des Konsumismus und des Relativismus herausfinden. Und er fragt: "Kann der zivilisatorische Niedergang aufgehalten werden? Die große prophetische Antwort darauf lautet „Ja“. Denn die Propheten haben uns gelehrt, dass es nach jedem Exil eine Rückkehr gibt, dass nach jeder Zerstörung die Ruinen wieder aufgebaut werden können, dass es nach jeder Krise eine Wiedergeburt geben kann, wenn wir an Gottes Vertrauen in uns glauben." (Mark Sayers, Descending Church, Kapitel 5)
Diese kulturelle Wiedergeburt findet in dem statt, was der Historiker Arnold Toynbee als "kreative Minderheiten" bezeichnete. Kreative Minderheiten ziehen sich zurück und entfernen sich von der Kultur, die sie umgibt. Diese Distanz ermöglicht ein Erkennen von dem, was lebensfeindlich ist und in die Irre führt. Gleichzeitig verwurzeln sie sich in einer Kraft- und Wahrheitsquelle außerhalb der dominanten Kultur (was bei uns die Verwurzelung in Christus wäre). Diese Abhängigkeit von einer Kraft- und Wahrheitsquelle außerhalb der dominanten Kultur führt dazu, dass kreative Minderheiten kränkelnde Kulturen erfrischen und neu beleben. Als kreative Minderheit zu leben, ist allerdings nicht einfach, denn es bedeutet, starke Verbindungen zur Außenwelt aufrechtzuerhalten und gleichzeitig dem eigenen Glauben treu zu bleiben, indem man nicht nur versucht, die heilige Flamme am Brennen zu halten, sondern auch die größere Gesellschaft, deren Teil man ist, zu verändern. Als „kreative Minderheit“ zu leben, bedeutet das zu tun, was große Urwaldbäume tun. Wenn im dichten Regenwald einer der Riesenbäume fällt, entsteht dort ein offener Raum. Sofort beginnt ein Wettlauf zwischen den Pflanzen um Platz und Licht. Der Raum füllt sich schnell mit einer Vielzahl von breitblättrigen Pflanzen. Bald darauf durchbrechen schlanke Bäume die breitblättrigen Pflanzen. Doch schon bald beginnen sich um ihre dünnen und verletzlichen Stämme Ranken nach oben zu schlängeln, die die Bäume bald überwuchern. Schließlich taucht wie aus dem Nichts ein einzelner, solider, dicker Stamm auf und durchstößt das Blättergewirr. Er erhebt sich über alle anderen Pflanzen, der schließlich zehnmal so hoch ist wie alle anderen und Jahrhunderte überdauern wird. Kreative Minderheiten nehmen sich wie der große Baum Zeit, tiefe Wurzeln auszubilden. Während die anderen um Raum, Luft und Licht kämpfen, gehen kreative Minderheiten in die Tiefe und bilden mächtige Wurzeln, um sich mit den tiefen und unsichtbaren Quellen des Lebens zu verbinden. Die zentrale Frage für die nächsten Jahre und Jahrzehnte lautet meiner Ansicht nach: wie verwurzeln wir uns tiefer in Christus?
Jetzt ist der Moment, wo wir eigene Kraft und eigene Klugheit beiseitelegen, und lernen, mit dem Heiligen Geist zu leben und zu leiten.
Hoffen auf geistliche Erneuerung von Gott her
In vielen unserer Köpfe herrscht folgendes inneres Bild: vor ein paar hundert Jahren war das Christentum auf dem Höhepunkt. Jeder war Christ und alle lebten in einer christlichen Gesellschaft. Seitdem hat ein langsamer, unvermeidlicher, unumkehrbarer Niedergang eingesetzt, der sich aktuell beschleunigt und langsam in Richtung null tendiert. Das aber ist Unsinn. Ein Blick in die Kirchengeschichte zeigt das. Nur zwei Beispiele: kurz vor Beginn der großen Erweckungsbewegung rund um John Wesley gab es einen Ostergottesdienst in Westminster Abbey in London, den genau acht Menschen besuchten – inklusive Pfarrer, Mesner und Musiker. Zwei Jahrzehnte später war die Kirche an Ostermorgen brechend voll. Ein anderes Beispiel: um 1800 war der Kirchenbesuch in Amerika mit Abstand am niedrigsten – und nur 7% der Gesamtbevölkerung war Mitglied einer Kirche. Hundert Jahre später waren in Amerika über 40% der Bevölkerung Mitglied einer Kirche, die höchste gemessene Zahl an Kirchenbesuchern war sogar erst in den 1950er und 1960er Jahren. Ein Blick in die Kirchengeschichte zeigt also: Zeiten von Niedergang, Zähigkeit und Verkrustung wechseln sich ab mit Zeiten von geistlicher Erneuerung, Gottesgegenwart und neuer Kraft.
International gab es die geistliche Erneuerung durch die Methodisten und die Great Awakening im 18. Jahrhundert. Es gab die geistliche Erneuerung durch die Baptisten, die Heiligungsbewegung und des Neupietismus im 19. Jahrhundert. Im 20. Jahrhundert gab es die geistliche Erneuerung durch Evangelikale, Pfingstbewegung und die charismatische Bewegung. Dazu kommt beispielsweise, dass in den letzten 10 Jahren mehr Asiaten Christen geworden sind als in den letzten zehn Jahrhunderten zuvor zusammengenommen.
Wikipedia schreibt: „Erweckungsbewegungen sind keine Randerscheinungen, sondern Massenbewegungen: Die Erweckungsbewegungen des 18. bis 20. Jahrhunderts haben jeweils zu einem starken Anwachsen der engagierten Christen in der Bevölkerung geführt.“
Das innere Bild von einem halbwegs idealen christlichen Zustand in der fernen Vergangenheit, der seitdem ständig degeneriert und langsam auf Null zuläuft ist also falsch. Stattdessen verhält es sich mit Blick auf geistlich kraftvolle Kirche eher wie mit Ebbe und Flut. Lasst uns also darauf hoffen und dafür beten, dass Gott auch diesmal wieder etwas Neues tut und uns und seine Kirche im Westen neu mit Leben und Kraft füllt.
Zeiten von Niedergang, Zähigkeit und Verkrustung wechseln sich ab mit Zeiten von geistlicher Erneuerung, Gottesgegenwart und neuer Kraft.
Geistlich leiten inmitten krisenhafter Komplexität
Die postchristliche Kultur mit ihrer Utopie einer schönen neuen Welt verströmt – gerade in Verbindung mit dem Konsum – immer noch kräftig Lockstoff, bröckelt aber zugleich an allen Ecken und Enden. Überall brechen seit Jahren Krisen auf: Klimawandel, Pandemie, politische Radikalisierung, Fake News, Ukrainekrieg, Inflation, der Aufstieg Chinas und die sich damit abzeichnende Veränderung der Weltordnung, jetzt kommt KI mitsamt der damit verbundenen technologischen Disruptionen. Auch unsere kirchlichen Strukturen sind in der Krise: die beständig weniger werdenden Kirchenmitglieder führen dazu, dass unser auf Präsenz in der Fläche ausgelegtes volkskirchliches System immer mehr unter Druck gerät. Dazu kommen Digitalisierung, Mitarbeitermangel, Mangel an Ehrenamtlichen, verkrustete Strukturen, mangelnde Innovation, zu hohe Arbeitsbelastungen, u.v.m.
Das alles kreiert schwierige, hochkomplexe, unüberschaubare Bedingungen. Wie sollen und können wir leiten in Zeiten von rasend schnellen Veränderungen, hoher Ungewissheit und zunehmenden Chaos? Es gibt eigentlich nur zwei Optionen. Die Erste: Wir probieren es noch härter, geben uns noch mehr Mühe, holen alles, wirklich alles (und am besten noch mehr) aus uns heraus. Probieren es also mit aller eigenen Stärke und aller eigenen Smartheit uns allen eigenen Möglichkeiten, die wir in uns haben. Oder aber: Wir nehmen all das ernst, das Überkomplexe, Unberechenbare, allzu Große und verstehen das als Einladung in eine andere, geistliche(re) Weise des Leitens. Jetzt ist der Moment, wo wir eigene Kraft und eigene Klugheit beiseitelegen, und lernen, im Heiligen Geist, mit dem Heiligen Geist und vom Heiligen Geist geleitet zu leben und zu leiten. Nur der Geist Gottes hat und verleiht die Kraft und den Überblick, um in diesen Zeiten auf heilsame und heilige Weise zu leiten.