Als 18-jähriger wollten Sie Architektur studieren. Warum taten Sie es nicht?
(lacht) Salopp ausgedrückt, weil Walter Ulbricht (Anmerkung der Redaktion: Der damalige Vorsitzende des Staatsrats der DDR) meinte, ich habe genug gelernt. Ich bin ja in Berlin aufgewachsen. Mein Vater arbeitete als Zimmermann auf einer Baustelle in Westberlin. Er gehörte daher zur unanständigen Kategorie der „Grenzgewinnler.“
Das hatte zur Folge?
Mir wurde der Zugang zum Abitur verwehrt. Meine Mutter fand dann in Westberlin ein Gymnasium, wo Jugendliche wie ich, denen aus religiösen oder politischen Gründen in der DDR der Zugang zum Abitur verweigert wurde, es absolvieren konnten. Am Ende der elften Klasse ging diese Tür zu.
Warum?
Weil Walter Ulbricht am 13. August 1961 den „antifaschistischen Schutzwall“ zwischen Ost und West bauen ließ. Damit war der Weg zur Schule und zum Abitur versperrt. (etwas wehmütig) Ich habe es nie nachgeholt. Ich machte stattdessen eine Ausbildung zum Maurer.
Was haben Sie aus diesem vermeintlichen „Umweg“ fürs Leben gelernt?
Ich war später als Pfarrer ungeheuer dankbar, dass ich nicht von der Schule direkt zur Universität und dann ins Pfarramt gegangen bin, sondern sieben Jahre mit meiner Hände Arbeit mein Geld hart verdient habe. Ich habe dort auf den Baustellen ganz normale Menschen kennengelernt. Mir fiel es daher nicht schwer einfachen Arbeitern auf Augenhöhe zu begegnen.
1967 verweigerten Sie den Dienst an der Waffe in der NVA (Nationale Volks Armee). Auch beim Gelöbnis auf den DDR-Staat stellten Sie sich quer. Das hatte zur Folge?
Ich war Bausoldat, 2. Jahrgang in der DDR. In der Jungen Gemeinde (Anmerkung der Red.: Kirchliche Jugendarbeit) hatten wir uns darauf verständigt: Wenn du jemand etwas versprichst, dann muss das Gott oder Jesus gegenüber passieren, aber nicht der staatlichen Obrigkeit. Maßgeblich für dieses Nein war aber auch das, was in Auschwitz und in unseren Land von 1933 bis 1945 durch die Deutschen angerichtet wurde, namentlich auch durch meinen Erzeuger.
Erzeuger? Wie meinen Sie das?
Ich habe bis heute Schwierigkeiten Vater zu sagen. Mein Vater war bei der SS, gehörte zur Wachmannschaft im KZ-Buchenwald, war einer, der Befehle ausführt. Der rechtfertigte sich in Diskussionen über sein Tun: Ich habe doch einen Eid geschworen. Als ich dann vor der Frage des Eides stand, war mir klar, da mache ich nicht. Warum sollte ich die verteidigen, die mich 1961 in dieses Land eingesperrt haben?
Mit Ihnen zusammen haben 21 Bausoldaten diesen Befehl verweigert ...
Als dies ruchbar wurde, ließ man uns im Hof antreten. 22 Soldaten traten nicht raus zum Gelöbnis. Dann kam plötzlich der Militärstaatsanwalt dazu und sagte: Sie bekommen den Befehl jetzt noch einmal. Wer diesen verweigert, muss mit einer langjährigen Haftstrafe rechnen.
Und dann?
(nachdenklich) Sind 20 von 22 rausgetreten. Das brachte mir 8 Monate Gefängnis ein.
Wie war das plötzlich als junger Mann hinter Gitter zu sitzen?
Die ersten zwei Tage in der Haft waren sehr schwer. Da hat mir permanent das Wasser in den Augen gestanden. Das Gefühl des Eingesperrtseins war schrecklich. Nach drei Tagen habe ich gemerkt, dass mir Widerstandskraft zuwuchs. Im Rückblick kann ich sagen, diese acht Monaten im Gefängnis haben mich angstfrei und furchtlos gemacht. Wenn man weiß, warum man im Gefängnis sitzt, nämlich um sich, seinem Glauben und seiner Weltanschauung treu zu bleiben, geht man da gestärkt raus. In meinem Gepäck hatte ich ein Bibel. Diese habe ich von vorne bis hinten studiert. Diese Worte wurden mir zum Trost und Halt.
Das brachte mir 8 Monate Gefängnis ein.
Sie waren in der U-Haft mit zehn Männern in einer Zelle. Die Tage vergingen wie im Schneckentempo ...
Ja, wir hatten viel Langeweile. Wir fingen schließlich an, die Wächter zu ärgern. Du brauchtest bloß ein bisschen laut zu werden, da mussten die kommen. (heiter) Das Spiel haben wir dann besonders gerne nachts gespielt. Wir lärmten los. Der Wärter kam gerannt, schaute durchs Guckloch und alle riefen im Chor 1. Das Spiel endete nach der 13. Dann kam er nicht mehr. Am nächsten Morgen wollten sie den Rädelsführer genannt haben. Doch wir hielten zusammen. Da wurde ich als „Soldat“, der die Gruppe zu führen hätte, zu einigen Wochen verschärften Arrest verdonnert.
Nach den 8 Monaten Gefängnis mussten sie noch die komplette Bausoldatenzeit ableisten. Und dann?
Ich wäre gerne Journalist geworden, aber da führte kein Weg rein. Ich bekam dann mit, dass die evangelische Kirche händeringend Pfarrer suchte.
Sie nahmen ein Theologiestudium über den zweiten Bildungsweg am „Paulinum“ in Berlin auf ...
Gleich zu Beginn des Studiums fragte mich der Ausbildungsleiter, wie ich mir das denn mit dem Pfarramt vorstellen würde. Ich habe ihm dann meine Beweggründe geschildert und ihm gesagt, dass ich hinterher gerne eine Berliner Gemeinde übernehmen würde. Da lachte dieser schallend und sagte: Das geht nicht. In Berliner Gemeinden hätten Sie es mit Inteligenzlern zu tun.
Hat Sie das verletzt?
Nein, ich war mir meiner sicher. Die ersten Jahre habe ich mich sehr unter Druck gesetzt, bis in mir die Überzeugung heranreifte, dass auch ein Halbtheologe ohne Abitur und universitären Abschluss ein ganzer Theologe für die Menschen sein kann. (lacht) Ich bin dann tatsächlich Pfarrer und Kreisjugendpfarrer in Berlin Friedrichshain geworden. Später habe ich dann auch gemerkt: Deine Komplexe kannst du stecken lassen, dafür bis du mit deiner Maurererfahrung nahe dran an den Menschen.
Sie scherten mit politischen Äußerungen und den Bluesmessen in der Samariterkirche aus dem Konsens „Kirche im Sozialismus“ aus. Was passierte dadurch?
(lacht verschmitzt) Bei Jugendlichen kam das gut an. Blues-Veranstaltungen durften ja nach der DDR-Veranstaltungsordnung nicht in Kirchen stattfinden, aber Blues während eines Gottesdienstes war nicht verboten. Mit einem Kollegen wagte ich dieses Projekt. Wir tranken mit den Jugendlichen, die überall im Stadtteil herumlungerten, ein Pulle Bier, spielten mit ihnen Fußball, luden sie in unsrer Räume ein. Die fingen an von ihren Sorgen, Nöten und Ängsten zu erzählen. Die Bluesmessen ohne lange Liturgie wurden zum Herzschlag unserer Gemeindearbeit. Bis zu 8000 junge Menschen rückten aus der ganze DDR zu diesen Gottesdiensten in zwei Kirchen an.
Das hat Ihnen aber sicher nicht nur Beifall eingebracht?
Ja, mehr als einmal wurde ich im Pfarrkonvent gefragt: Wie viele davon haben sich taufen lassen? Wie viele davon zahlen inzwischen Kirchensteuer? Da habe ich gesagt: Das ist nicht meine Triebfeder. Ich wollte einfach das Wort Jesu „Kommet her zu mir alle, die ihr mühselig und beladen seid“ (Matthäus 11,28) leben.
Wie hat der Staat, der ja für sich in Anspruch nahm, der einzig wahre Anbieter für die Arbeit mit Jugendlichen auf diese Konkurrenz reagiert?
Der Ärger auf staatlicher Seite war groß. Sie übten auf meine Vorgesetzten massiven Druck aus, diese Gottesdienste einzustellen. Man wollte mich auf eine andere Stelle wegloben. Doch ich blieb, kämpfte für dieses Format bis zum Ende der DDR. Der Staat schwenkte schließlich um, fing an Druck auf mich persönlich auszuüben.
In eine Pilzsuppe wollte man mir Grüne Knollenblätterpilze untermischen.
Man versuchte Sie dann mit einem Mordanschlag aus dem Verkehr zu ziehen...
Meine Stasiakten erzählen mir von vier Versuchen. Mir wurde an einer Kreuzung die Vorfahrt genommen. Der Lkw-Fahrer ist bei Rot gefahren und in mich hinein gekracht. Mein Wagen hatte einen Totalschaden und ich zwei angebrochene Halswirbel. Im Krankenhaus stellte man fest, dass in meinen Händen und Füßen Lähmungserscheinungen anfingen. Ich wurde zum Glück schnell operiert, ansonsten wäre ich heute wohl querschnittsgelähmt. Einmal hatte ich Zucker im Tank, und das Lenkrad meines Dienstwagens wurde manipuliert. Ich fuhr mit meiner Frau und meinen vier Kindern einen Waldweg entlang, als ich plötzlich das Lenkrad in der Hand hatte. Ich fuhr zum Glück im Schritttempo und brauchte nur auf die Bremse drücken. Einen Tag vorher waren wir auf der Autobahn. Wir wären wohl alle ausgelöscht worden. Später wurde geplant, dass mich eine Frau aus der Gemeinde zum Abendessen einlädt. In eine Pilzsuppe wollte man mir Grüne Knollenblätterpilze untermischen.
Sie haben dann 1982 zusammen mit dem Bürgerrechtler Robert Havemann den Berliner Appell „Frieden schaffen ohne Waffen“ verfasst…
Der mir zwei Tage Stasi-Knast einbrachte und hinter den politischen Kulissen für heftigen Wirbel gesorgt hat. Die evangelische Kirche und die damalige Bundesregierung intervenierten bei der Regierung der DDR. Stasi Chef Mielke wollte mich wegsperren oder aus der DDR rausschmeißen. Staatschef Erich Honecker wollte keinen zweiten Fall Biermann. Er sorgte dafür, dass ich wieder in der DDR freikam, rang der Kirche aber das Versprechen ab, dass der Eppelmann zukünftig in politischen Dingen seine Berliner Schnauze hält.
Das haben Sie dann auch getan?
(lacht) Ich habe denen gesagt, in der nächsten Woche lehne ich alle Interviewanfragen aus dem Westen ab, dann aber nicht mehr.
Als Pfarrer im Berliner Stadtbezirk Friedrichshain haben Sie im Mai 1989 die Auszählung der Kommunalwahl mutig vor Ort mitverfolgt. Wie haben Sie die Auszählung der Kommunalwahl kontrolliert?
Wir haben nicht mehr gemacht als die Zahlen aufzuschreiben, die die Wahlhelfer im Wahllokal vor unseren Augen und Ohren genannt haben. Das waren keine errechneten oder erdachten Fantasiezahlen, die wir zusammengeschrieben haben.
Was haben Sie gedacht, als Sie das manipulierte Ergebnis hörten, welches DDR-Wahlleiter Egon Krenz in der Nachrichtensendung „Aktuelle Kamera“ verkündete?
Ich habe mich geärgert und wir haben uns bestätigt gefühlt. Wir sahen, die haben das gemacht, was sie offensichtlich all die Jahre auch schon gemacht haben: Uns betrügen.
Waren die gefälschten Wahlergebnisse der Anfang vom Ende der DDR?
Zumindest ein entscheidender Dominostein. Das Agieren hat manchen ehrlichen Menschen wie eine Keule getroffen. Ich bin vielen der SED nahestehenden oder auch SED-Mitgliedern begegnet, die fassungslos waren. Die im Grunde ihres Herzens anständige Menschen sein wollten und dann auf einmal tief enttäuscht feststellten, ihre Jungs da oben sind Heuchler und Lügner.
Sie sind auch bespitzelt worden?
(langes Schweigen) Das hat mich sehr getroffen. Mein bester Freund war Wolfgang Schnur, dachte ich zumindest. Er war als Anwalt der Ansprechpartner der Kirche im Blick auf den Beistand für Bausoldaten oder Totalverweigerer. Im März 1990, wenige Tage vor den ersten freien Wahl in der DDR flog seine Tarnung auf. Es stellte sich heraus, dass er von 1965 bis zum 1989 einer der wichtigste Stasispitzel im Bereich der evangelischen Kirche gewesen ist. Ich habe ihn dann nach seinem Zusammenbruch im Krankenhaus besucht. Erst hat er mich stundenlang vor der Tür warten lassen, dann erzählt er mir, dass er dem Magazin Stern ein Interview zu seiner Tat gegeben habe. Zu meinem Erstaunen sagte er mir, „von irgendetwas muss ich ja jetzt noch leben“. Ich verließ das Krankenhaus tief enttäuscht, weil ihm kein Wort der Erklärung, der Bitte um Entschuldigung über die Lippen kam.
Sind Sie ihm nochmals begegnet?
Zehn Monate nach seiner Enttarnung war ich für eine Zeugenaussage vor Gericht in Rostock. Als ich die Treppe hochging, stand er da. Er wandte sich mir zu und wollte mir die Hand geben. Da habe ich ihm den Handschlag verweigert, ihm gesagt: „Wolfgang, du musst mir eine Menge erzählen, bevor ich dir wieder die Hand geben kann.“ So mancher hat mir danach gesagt, „du als Pfarrer musst ihm doch verzeihen.“ Nein sage ich, in meiner Bibel steht, dass man keine Perlen vor die Säue werfen soll. Wenn einem verziehen werden soll, muss zumindest ein bisschen Funken Reue vorliegen.
Wenige Wochen nach dem Mauerfall wurde der Pazifist Eppelmann Minister der Verteidigung bei der Volksarmee. War das nicht widersprüchlich?
Ich habe mit dieser Anfrage von Ministerpräsident Lothar de Maizière sehr gerungen. Ich habe ihm zuerst gesagt, nee, das mache ich nicht. Aber als Abrüstungs- und Verteidigungsminister würde ich zur Verfügung stehen. Später habe ich erfahren, dass andere ihm schon einen Korb für diese schwierige Aufgabe gegeben hatten. Als Pfarrer kam mir zugute, dass ich mich um die kümmerte, bei denen etwas zusammengebrochen ist. Und für die NVA-Militärs war auf einmal alles anders, für die war ihr Weltbild zusammengebrochen. Zugleich waren sie die einzigen, die schwer bewaffnet waren. Wie würden die reagieren? Wie der Bär, der in die Ecke gedrängt wird?
Wie haben ihre politischen Mitstreiter auf diesen Frontenwechsel reagiert?
(zögerlich, leise) Ich sehe heute noch das Schild an der Samariterstraße 27: "Eppelmann treibt uns in die Nato." Und ich habe noch heute die Zeitungsannonce von Katja Havemann und Bärbel Bohley vor Augen. Da „Rainer Eppelmann! Wir schämen uns für Dich“.
Hat Sie das verletzt?
Schön war es nicht. Ja, es hat mich geärgert und traurig gemacht.
Sie sind jetzt 81 Jahre alt. Was hat Sie davor bewahrt in all den durchgestandenen Kämpfen nicht bitter zu werden?
Wir haben gewonnen, gewaltfrei und friedlich. Nicht die Honeckers, nicht die Mielkes und auch nicht die Stasi haben triumphiert, sondern wir als Volk. Und ganz sicher hat mir auch mein christlicher Glauben geholfen, die Dinge immer wieder einzuordnen, unter die Füße zu bekommen.
Die Schicksalsfrage für uns Europäer lautet doch: Willst du in einer Diktatur oder in einer Demokratie leben?
Was macht sie im Blick auf die Zukunft in diesen politisch unruhigen Zeiten hoffnungsvoll?
Demokratie ist nicht perfekt, es gibt ungerechtes, notvolles, schwieriges, aber die Schicksalsfrage für uns Deutsch und Europäer lautet doch: Willst du in einer Diktatur oder in einer Demokratie leben? Mir ist klar, dass unsere Demokratie nicht das Paradies ist, aber es gibt meine Überzeugung nach keine Staatsform, die dem am nächsten kommt. Diktatur hingegen ist immer unmenschlich, weil es Menschen zu Untertanen macht, aber nicht zu freien, fantasievollen und schöpferischen Staatsbürgern.
Eine Bibelwort, dass Sie in all den Jahren begleitet hat, ist?
Das Dreifachgebot der Liebe aus Matthäus 22. „Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben von ganzem Herzen, von ganzer Seele und von ganzem Gemüt… „Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst.“ Meine Erfahrung und tiefste Überzeugung sind, ich kann kein unterstützendes, empathisches Verhältnis zu anderen haben, wenn ich mich nicht selber nicht gerne habe.
Herzlichen Dank für das Gespräch!