W.I.L.D. – Warum ich lernend diene.

Veröffentlicht in Mission im Wandel Pulsschlag am

Wilde Zeiten für die Kirche - Relevanzverlust auf ganzer Breite. Viele Veränderungsprozesse beschäftigen sich mit der Verwaltung des Rückgangs. Nur ein paar hoffnungslos hoffnungsvolle Verrückte glauben an eine blühende Zukunft der Kirche. Das gallische Dorf inmitten der Übermacht der zunehmend atheistischen Gesellschaft.

Sich ehrlich machen

Bist du eher Team „resignierter Rückbau“ oder eher Team „Jetzt-erst-recht“? Lieber aktiv nach vorne die Zukunft gestalten oder irgendwie so lange wie möglich am „So-wie-immer“ festhalten? Irgendwann geht es dann doch nicht mehr, weil der bisher so sichere Kirchensteuerfluss langsam versiegt. Die meisten merken: „Weiter so“ ist vorbei. Und viele wissen: „Weiter so“ war eigentlich schon sehr lange vorbei. Immer deutlicher haben die erkannt, die es sehen wollten, dass wir als Kirche seit Jahrzehnten mit vielen unserer Angebote für immer mehr Menschen nicht mehr andockfähig sind. Manche spätmittelalterlichen Standardformate und (Leitungs-)Strukturen sind postmodern geprägten und selbstbestimmten Menschen schlicht nicht mehr zu vermitteln. Wenn wir ehrlich sind, wissen wir das auch. Und ehrlich sollten wir sein. Denn Authentizität und Ehrlichkeit ist neben dem Evangelium das größte Pfund, das wir als Kirche haben (können). Sich ehrlich machen und sich als Kirchen-Menschen auch selbst verletzlich und lernfähig zu zeigen, öffnet uns die Tür bei den jungen Generationen. Wenn wir ihnen anbieten, uns mit ihnen zusammen – auf Augenhöhe - auf den Weg zu machen, um rauszufinden, wie Kirche heute gelebt werden kann, dann ist da noch viel möglich. Wirklich. Nicht zuletzt auch deshalb, weil Christus der Herr seiner Kirche ist – denn wir sind es nicht. Nicht die Synoden, nicht der Oberkirchenrat, nicht die Pröpste, Dekane oder Pfarrer. Ich auch nicht. Gut, wenn man sich das immer mal wieder bewusst macht… Vom hohen Ross herunter leiten und belehren zu können (Top-Down-Leitung, Rede von „Klerus“ und „Laien“) – das ist längst vorbei. Das hohe Ross ist längst tot. Da hilft es auch nicht, ein Buch zu schreiben mit dem Titel „Die Kunst, ein totes Pferd zu reiten“. Absteigen ist angebracht. Auf Augenhöhe den Menschen zu begegnen ist eh viel einfacher. Beziehung geht immer vor Programm. Denn nicht das Programm müssen wir am Laufen halten (auf Biegen und Brechen), sondern wir sind für die Kirche da – und die Kyriakoi („die zum Herrn gehören“) sind … Menschen. Für die sind wir da – und für die, die es werden können. Im Zweifelsfall kann alles andere weg. Ja, alles andere. Auch Liebgewonnenes und Langzeitgewöhntes. Trauerprozesse sind angebracht. Weil es mal wertvoll und wichtig war (und für manche immer noch ist) – und weil wir Emotionen ernst nehmen müssen. Aber wir dürfen uns nicht von Nostalgie diktieren lassen, was, wie und warum wir etwas tun.

Sich die Warum-Frage stellen

Nicht nur bei zurückgehenden Ressourcen ist es ein „Game-Changer“, sich immer wieder neu zu fragen, was denn der eigentliche Auftrag ist. Nicht erst seit Simon Sineks Buch „Start with why“ und seinem Golden Circle fragen sich Verantwortungsträger, was denn der eigentliche Sinn ihrer Unternehmung ist. Denn nichts motiviert so sehr wie zu wissen, WARUM man eigentlich tut, was man tut. Warum sind wir Kirche? Kurz gesagt: Weil Gott uns dazu begeistert und uns dazu beauftragt hat. Nachzulesen in Matthäus 28,19ff. Da gab uns Jesus nicht etwa (nur) einen Missionsbefehl (das ist nur der erste Teil), sondern er hat uns den Auftrag gegeben, „Jünger zu machen“, also darauf hinzuarbeiten, dass Menschen zu Schülern von Jesus selbst werden und ihm nachfolgen. Bedeutet nichts anderes, als Prozesse zu gestalten, in denen Menschen zum Glauben kommen, im Glauben reif werden und ihren Glauben mitten im Alltag inkl. aller Herausforderungen leben. Der Auftrag ist geistliches Alltagstraining. Dazu gehört natürlich vieles: die Identität als Kind Gottes, der Einsatz der Geistesgaben, die Berufung, Frucht des Geistes (eingeübte Haltungen), Reich-Gottes-Botschafter sein (Einsatz für Gerechtigkeit, Frieden,…).  Kirche ist die Gemeinschaft, in der Menschen „mit Jesus leben, um von ihm zu lernen, wie Jesus zu sein“ (Dallas Willard). Ihm ähnlicher zu werden ist wohl die entlastendere Formulierung – und immer noch Herausforderung genug.

Nur ein paar hoffnungslos hoffnungsvolle Verrückte glauben an eine blühende Zukunft der Kirche.

Was in unseren Gemeinden dient dem und was nicht? Warum tun wir es dann immer noch? Eins ist klar bei den aktuellen Zeiten: Veränderung ist dran. So geht es nicht weiter. Also warten wir darauf, dass die Verantwortlichen „über uns“ das Richtige tun? Good luck… Das einzige, was ich direkt verändern kann, bin ich selbst. Zum Glück kann man mit Energie, Geduld und reflektiertem Handeln auf lange Sicht auch andere positiv beeinflussen. Aber es fängt immer bei mir, bei dir selbst an. Nicht ohne Grund hat Mahatma Gandhi gesagt: „Be the change you want to see in the world.“

Ausdauer und Mut beweisen

Du kannst und du wirst etwas verändern, wenn du nicht nur die Gemeinde wechselst (und dabei dich und deine eigenen Baustellen mitnimmst), sondern die nötige Ausdauer und „Chuzpe“ (hebräisch: trotzig-frechen Mut) mitbringst, die nicht gleich wieder aufgibt. Die Erfahrung zeigt, dass man gerade in der Kirche ganz schön viel Hartnäckigkeit braucht, um wirklich was zu verändern. Und ich muss Co-Revoluzzer finden, die daran mitarbeiten, dass sich etwas entwickelt. Entwicklung passiert nicht linear, sondern braucht immer mehrere Schleifen, auf die man auch andere Menschen gut mitnehmen kann. Es ist dabei am vielversprechendsten, mit denen zu arbeiten, die auch wollen. Es fängt mit mir selbst an, aber es hilft immens, wenn man ein paar andere Ichs findet, die die Vision (das „Warum“) mit mir teilen und mutig vorangehen. Wenn Ich dafür einstehe, dranzubleiben und andere auch, dann geht auch was. Ich muss selbst Verantwortung übernehmen, dabei für die Unbeweglichen unbequem bleiben und aushalten, dass ich nicht von allen Applaus bekomme. Denn wenn ich warten will, bis alle mit ins Boot kommen, kann ich lange warten. Das wird nicht passieren…

Es ist ja klar: Wenn Jesus uns einen Jüngerschaftsauftrag gibt, gilt der zuerst mir selbst. Ich kann anderen nicht glaubwürdig beibringen, was ich selbst nicht lebe. Das spürt die junge Generation sofort (bzw. noch schneller als die vorher). Es gibt da dieses etwas kryptische Bild vom Hirtenschaf. Von vorne Schaf, von hinten Hirte. Vorne laufe ich selbst Jesus als dem großen Hirten hinterher (deshalb von vorne Schaf) und von hinten sehen andere in mir einen Hirten, dem sie als Schafe folgen. Ich bin also immer beides. Folge mir, ich folge Jesus! Letztlich kommt es natürlich drauf an, dass sie mehr ihm folgen als mir …

Die Erfahrung zeigt, dass man gerade in der Kirche ganz schön viel Hartnäckigkeit braucht.

Lernende bleiben

Nun sind wir was die Geistesgaben betrifft nicht alle Hirten, manche haben auch andere Rollen, aber ich bin immer auch selbst ein Nachfolger/Jünger. Also immer selbst ein Lernender. „Jünger wird man unterwegs“ heißt ein Buch von Dallas Willard. Und um dieses geistige, geistliche und körperliche Unterwegsbleiben geht es beim Jüngersein. Ich lebe eine Kultur des Lernens, ich „hab es nicht in der Tasche“, auch nicht mit viel Erfahrung. Ich kann meine Erfahrungen teilen, aber andere können ihre (ganz anderen) noch dazulegen. Verschiedene Frömmigkeitsstile und Zugänge bereichern und helfen dabei, nicht allzu einseitig zu werden. Ich mag da den trinitarischen Kompass mit der „radikalen Balance“ von Christian A. Schwarz. Darin steckt die Erkenntnis, dass die Fülle aller Farben (weiß) die Mitte ist (Christus), nach der ich mich von unterschiedlichen Standpunkten aus orientiere. Um in der Mitte anzukommen, muss ich mich auf die ganz andere, komplementäre (also mir gegenüber liegende) Seite ausstrecken. Unbequem, aber bereichernd und horizonterweiternd. Ich habe auch nach 24 Jahren hauptamtlichem Dienst noch viel zu lernen. Und das ist bei Ehrenamtlichen nicht anders – alle oben genannten Rollen eingeschlossen. Beim Jüngersein geht es ganz wesentlich darum, Haltungen einzuüben. Gesunde und positive Haltungen, die für mich selbst und Andere einen heilsamen Unterschied machen.

Mut zum Dienen

Vor allem für Leitende ist eine Haltung ganz besonders wichtig. Insbesondere dann, wenn man in gewisser Weise Macht hat. Diese Macht nicht festzuhalten oder auszubauen, sondern bewusst abzugeben und auf andere zu übertragen, sie zu bevollmächtigen ist die wichtigste Grundhaltung. Denn Gemeinde baut man auf Augenhöhe und als ein Leib – oder gar nicht. Ich brauche dazu die Anderen und die Anderen brauchen mich. Auch Leitende und Menschen mit Amt müssen ihre Grenzen kennen und einen Mut zum Dienen mitbringen. Zu viele Gemeinden leiden an Menschen in Verantwortung, für die Andere nur Erfüllungsgehilfen sind. Leiten heißt Dienen. Dabei ist die Fokussierung in der eigenen Rolle wichtig. Je höher in der Hierarchie, umso mehr. Leitende sind weder für alle da noch für alles zuständig (!), sondern in erster Linie für die Mitarbeitenden, die für die eigentliche Arbeit und die Menschen in Gruppen, Kreisen und Teams verantwortlich sind. Leitende (insbesondere Hauptamtliche) kümmern sich um andere Leitende. Und die kümmern sich um die Gemeinde. Also je höher die Verantwortung, umso indirekter und multiplikativer. Ich investiere in Menschen, die in Menschen investieren. Umso klarer, je enger die Ressourcen werden. Also nicht möglichst viele Dienste zählbar im Kalender haben, sondern planvoll und reflektiert Gemeinde durch Menschen aufbauen. So sieht dienende Leiterschaft von außen zwar nicht so geschäftig aus (weil weniger sichtbar), aber der positive Einfluss ist auf lange Sicht größer, wenn man in die richtigen Menschen am richtigen Platz investiert und sie darin gut begleitet. Jünger machen, die Jünger machen ist der Auftrag. Da gehört ein reflektierter Umgang mit Gaben und Grenzen dazu. Jeder muss seine Geistesgaben kennen und darin wachsen, damit Priesterschaft aller Gläubigen nicht nur eine nette Theorie bleibt, sondern wirklich gelebt wird. Da geht noch viel.

W.I.L.D. - Warum ich lernend diene? Weil es Gemeinde voran bringt. Und du – machst du mit? Es darf ruhig etwas wilder werden.

Foto von Karl Fredrickson auf Unsplash

Autor:in(nen)

Martin Strienz
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Martin Strienz ist Jugendreferent im Evangelischen Jugendwerk Böblingen, Persönlichkeitstrainer und Berater. Er investiert in junge Menschen, damit sie sich fürs Reich Gottes einsetzen. Er moderiert Zukunftsprozesse, hilft Verantwortlichen bei der Gestaltung und engagiert sich ehrenamtlich im Gebetshaus Schönbuch.

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