Hintergrund

Robert Warren hat mit diesem Modell eines der wirkungsvollsten englischen Programme zur Gemeindeerneuerung geschaffen, hat es in vielen Jahren erprobt und als Buch veröffentlicht.

Robert Warren, The Healthy Churches’ Handbook. A process for revitalizing your church, Church House Publishing London 2004 (3. Aufl 2005).

Robert Warren. Vitale Gemeinde. Ein Handbuch für die Gemeindeentwicklung. BEGPraxis, Aussaat-Verlag, Neukirchen-Vluyn, zweite Auflage 2013.

Der Ausgangspunkt war eine Erfahrung aus der Diözese Durham. Dort entdeckte Janet Hogson, eine Kollegin von Robert Warren, zwei auffällige statistische Zahlen. Zwischen 1990 und 1995 war die Gottesdienstteilnahme überall um 16 % gesunken, aber unter den 260 Gemeinden der Diözese hatten gleichzeitig 25 Gemeinden ein Wachstum von über 16 % Teilnahme. Warum wuchs hier die Beteiligung? Die zu erwartenden Faktoren griffen nicht, auffällig war eher die große Unterschiedlichkeit: die Gemeinden stammten alle aus Regionen der Diözese, umfassten alle sozialen Schichtungen sowie die verschiedenen kirchlichen Traditionen, die Geistlichen waren ebenso unterschiedlich. Weder Umgebung noch Gemeindegröße, weder die theologische Prägung noch der Leitungsstil erklärten dieses Wachstum. Gab es ein gemeinsames Geheimnis hinter ihren unterschiedlichen Geschichten?

Der Weg zu den sieben Merkmalen

Sie luden diese Gemeinden zu einem Auswertungstag ein. Ergebnis: Keine dieser Gemeinden wollte dezidiert wachsen, zählbare Ergebnisse waren nicht interessant, sie suchten mehr nach Qualität als nach Quantität, typisch war die Sehnsucht eine bessere Gemeinde zu sein. ‚Gesund’ schien ein besseres Merkmal zu sein als ‚wachsend’, denn Wachstum ist das normale Resultat eines gesunden Organismus. So wurden die Merkmale von gesunden und vitalen Gemeinden („marks of a healthy church“) nicht durch Zahlen erfasst, sondern durch Ziele, Charakteristika, Werte und Wünsche. Ihre Vitalität wird nicht durch bestimmte Arbeitsformen geformt, aber ihre Werte und Ziele fördern Ausdrucksformen ihrer Vitalität.

Auffälligerweise fand sich in allen Gemeinden so etwas wie eine gemeinsame Themenliste, die sich in anderen Diözesen bestätigte. Diese sieben gemeinsamen Themen - Warren nennt sie „marks of church“ - sind weiter bearbeitet und reflektiert worden. Sie werden in dem vorliegenden Werkzeug anderen Gemeinden angeboten, um das jeweilige Gemeindeprofil zu entdecken und daran das Gemeindeleben zu reflektieren.

Überblick

Die sieben Merkmale einer vitalen, im biblischen Sinn 'gesunden' Gemeinde

1. Kraft und Orientierung aus dem Glauben an Jesus Christus beziehen (Energized by faith)

Das scheint ein grundlegendes Merkmal zu sein. Im Herzen dieser Gemeinden und ihrer Mitglieder ist Realität geworden, dass man sich der Gegenwart, Güte und Liebe Gottes bewusst ist. Glaube ist der Treibstoff, mit dem sich diese Gemeinden fortbewegen.

2. Den Blick nach außen richten (Outward-looking focus)

Typisch für diese Gemeinden war nicht die Konzentration auf ihr eigenes Leben und ihre Angelegenheiten, sondern typisch waren praktische Fürsorge für das örtliche Umfeld, das Ganze des Lebens und die Welt, in der wir leben. Die Gemeinden haben die Fähigkeit, das Leben zu genießen und das Leid und das Ringen der Welt um sie herum mit zu empfinden.

3. Herausfinden wollen, was Gott heute will (Seeks to find out what God wants)

Solche Gemeinden zeichnen sich aus durch einen geschärften Blick für das Wesentliche und entschlossenes Eintreten für erkannte Werte und Ziele. Für sie ist der göttliche Ruf entscheidend, lustlose Wiederholung althergebrachter Formen und Formeln kommen für sie nicht in Frage. Beharrlich im Gebet gehen sie voran.

4. Neues wagen und wachsen wollen (Facing the cost of change and growth)

Einzelne Menschen und Gruppen stehen immer wieder vor schwierigen Entscheidungen und Umständen, die sie auf die Probe stellen. Diese Gemeinden bewiesen den Mut, harten und schmerzhaften Wahrheiten ins Gesicht zu sehen und für echte, oft kostspielige Veränderungen bereit zu sein.

5. Als Gemeinschaft handeln (Operates as a community)

Es war nicht nur der Glaube an Gott, der diese Gemeinden trägt, sondern die Realität und Kraft von großzügigen und ehrlichen Beziehungen. Diese Beziehungen machten die Gemeinde zur ‚Familie’ für alle, die daran teilhaben und lockten zugleich die Einzelnen mit ihren Begabungen aus der Reserve.

6. Raum schaffen für alle (Makes room for all)

Obwohl sie das sehr schätzten, was sie haben – nicht zuletzt in ihrer gegenseitigen Unterstützung –, fanden diese Gemeinden Wege, andere nicht nur im Gottesdienst willkommen zu heißen, sondern zum Teil des Gemeindelebens zu machen. Das ganze Leben dieser Gemeinden ist von Großzügigkeit geprägt

7. Auf das Wesentliche konzentrieren (Does a few things and does them well)

Eines der überraschendsten Merkmale dieser Gemeinden ist ihr unaufgeregtes, zielgerichtetes Leben und Handeln. Es erwächst aus der Grundhaltung, auf Gottes Ruf antworten zu wollen und dabei die eigene Zeit und Kraft einzusetzen. Gemeinden mit dieser Haltung hetzten nicht wie verrückt herum, sondern hatten Freude an dem, was sie tun, und erfuhren die positiven Ergebnisse qualitativ guter Arbeit.

Evaluation

Die Gemeindeprofil-Übung

Die Gemeindeprofil-Übung nutzt diese sieben Merkmale zur Einschätzung und zur Veränderung der sie anwendenden Gemeinden. Der Weg zum Gemeindeprofil umfasst mehrere Schritte.

1. Zunächst werden mit Moderatoren - z.B. in einem Workshop in der Gemeinde, in einer Predigtreihe oder in Kleingruppen - zur Erstellung eines Gemeindeprofils alle diese Kennzeichen gründlich vorgestellt und mit Anwendungen anschaulich gemacht.

2. Anhand dieser Kennzeichen entsteht durch die Teilnehmenden ein eigenes Gemeindeprofil, so etwas wie eine Moment-Aufnahme der jeweiligen Gemeinde.

3. Dieses Ergebnis wird in der Gesamtgruppe durchgesprochen: Wo sind wir stark? Wo unterscheiden wir uns in der Einschätzung? Wo liegt unser stärkster Handlungsbedarf?

4. In einer Ideenwerkstatt werden Ideen zur Qualitätsverbesserung der Gemeindearbeit zusammengetragen.

5. Anschließend an diese Tagesveranstaltung wertet die Gemeindeleitung das Ergebnis aus und entscheidet sich für eine (!) der vorgelegten Handlungsoptionen.

6. Anschließend wird diese umgesetzt, begleitet und

7. nach einem Jahr feiernd ausgewertet.

Der Prozess kann nach einer festgelegten Zeit wiederholt werden, das Ergebnis mit dem früheren verglichen und ein anderer Schwerpunkt für die nächste Zeit gewählt werden. Auffallend ist die durchdachte Struktur des Vorgehens: Sie erstellt das Profil mit vielen Beteiligten, lässt das Leitungsorgan aufgrund der Ergebnisse entscheiden, reduziert die Handlungen auf überschaubare Ressourcen und Zeiten und nutzt die Chancen ortsfremder Moderatoren.

Intuition

Der Engel der Gemeinde

Als weitere Möglichkeit bietet „Vitale Gemeinde“ an, den evaluativen Weg der Gemeindeerkundung durch einen intuitiven Weg zu ergänzen. Unter dem ‚Engel der Gemeinde’ wird nach Offbg 2-3 die Gemeinde als Persönlichkeit verstanden und mit Hilfe von Bildern identifiziert.

Dieses Bild vom Engel der Gemeinde verbindet ihre Geschichte („Wo kommt die Gemeinde her?“), ihr Umfeld („Wo ist sie?“), ihre Persönlichkeit („Was ist sie?“) und ihre Berufung („Wozu ist sie da?“), um ihr Wesen, ihre Art (Ethos) zu erfassen und ihr zu helfen, ihre Kultur und ihre Einstellung zu ändern.

Wo Strukturreformen die Organisation ändern und Gemeindeentwicklungs-Ansätze Bedürfnissen mit Programmen begegnen wollen, wo Leitbildentwicklungen oft nur eine Auflistung des Vorhandenen oder eine Beschreibung des Gewünschten liefern, kann die Bestimmung des Engels Gemeinden helfen, sich mit ihrer Berufung, ihrer Geschichte, ihren Begabungen und ihrem Glauben auseinandersetzen.

Der ‚Engel der Gemeinde’ ergänzt die auswertende Gemeindeprofilübung durch eine intuitive Wahrnehmung und ein visionäres Bild.